Blickst du manchmal darauf zurück, wie dein Leben bisher verlaufen ist? Wünscht du dir dann, du könntest die Zeit zurückdrehen, um einen anderen Weg einzuschlagen? So geht es jedenfalls den Verfassern in dieser Ausgabe der HAFTNOTIZEN. Sie denken über den Augenblick nach, der sie letztlich in Haft gebracht hat und wie ihre Lebenswelt bis dahin aussah. Dabei spielt auch ein ganz besonderer Mensch eine wichtige Rolle. Hast du auch jemanden an deiner Seite, der dir Kraft gibt und Mut macht?
Unglücklicherweise kann man die Zeit nicht anhalten, und die Verfasser schreiben jetzt aus dem Gefängnis heraus. Wie verbringen sie dort ihre Zeit? In der Strafhaft müssen sie arbeiten. Wie viel ist die Arbeitszeit dort eigentlich wert?
Hinweis: Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.
Meinungsfreiheit
Wie immer ist uns Meinungsfreiheit sehr wichtig – deshalb äußert der jeweilige Verfasser seine ganz persönliche Meinung, die nicht unbedingt vom gesamten Team der Haftnotizen geteilt werden muss.
Schreibtrainerin: Tania Kibermanis
O.M.E. und Mr. Afro: Warum soll ich arbeiten gehen?
Text von O.M.E. und Mr. Afro (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Hier in der Haft muss ich arbeiten gehen, weil ich sonst kein Geld habe und ein Disziplinarverfahren bekomme – es ist Pflicht, in der Strafhaft zur Arbeit zu gehen. Wieso das so ist, kann ich nicht ganz verstehen. Aber wenn ich nicht arbeiten würde, wäre ich den ganzen Tag in meinem Haftraum.
Manchmal möchte ich arbeiten, weil es mir Spaß macht. Und weil die Zeit damit viel schneller vergeht und man beschäftigt ist. Es gibt auch Tage, an denen ich nicht arbeiten mag. Aber es ist eben Pflicht. Ich verdiene hier in H-Sand in 8 Stunden 12,23 Euro. Das verdienen die meisten Menschen in einer Stunde. Es ist alles viel teurer geworden, zum Beispiel Lebensmittel und Tabak. Wir dürfen im Monat für 154,- Euro einkaufen, aber man hat meistens nur 100,- zur Verfügung. Davon gehen allein schon 50,- Euro für Tabak weg, der Rest ist für Lebensmittel. Deswegen muss ich arbeiten, weil ich sonst nix habe.
Aber meistens gehe ich gerne arbeiten, weil es mir gefällt. Ich mache eine Ausbildung zum Maler und Lackierer hier im Gefängnis. Ich sitze noch drei Jahre, zu vier Jahren und drei Monaten wurde ich verurteilt. Mein Plan ist es, in die Sozialtherapie zu kommen, es durchzuziehen und dann in die Drogentherapie zu gehen. Wenn ich dann komplett draußen bin, kann ich als Maler arbeiten. Hier im Knast habe ich meinen Schulabschluss gemacht. Was ich draußen wahrscheinlich niemals geschafft hätte.
Für mich ist es wichtig, eine Arbeit zu haben, die mir Spaß bringt. Man ist den halben Tag am Arbeiten. Da ist es wichtig, dass man daran Freude hat, sonst wird man auf Dauer depressiv. Spaß steht an erster Stelle, aber das Geld ist natürlich auch wichtig. Damit ich eine Familie gründen kann und es meinen Kindern nicht an Geld fehlt.
O.M.E.: In welchem Moment hätte ich gerne die Zeit angehalten?
Text von O.M.E. (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ich hätte gerne den Tag angehalten, bevor ich meine Tat begangen habe. Ich war zur Tatzeit siebzehn Jahre alt. Dieser Tag hat so angefangen: Ich war gerade frisch aus dem Urlaub zurückgekommen und habe mich mit zwei Freunden im Hamburger Stadtpark getroffen. Wir haben zusammen drei Flaschen Whisky getrunken – was mein Leben komplett verändert hat.
Laut dem Richter hatte ich 2,4 Promille. Ich wusste gar nichts mehr. Auch an die heftige Auseinandersetzung kann ich mich nicht mehr erinnern. Das alles kam erst am nächsten Tag – da habe ich realisiert, was passiert ist. Ich bin im Polizeigewahrsam aufgewacht. Und dachte nur: Scheiße. Was habe ich gemacht? Und wieso??
Die Polizei hat mir erklärt, was ich gemacht habe. Ich war schockiert. Ich habe gebetet, dass es der Person gut geht, der ich das angetan habe. Nach 24 Stunden wurde ich in die Untersuchungshaftanstalt gebracht. Dort war ich sieben Tage, bis ich dann in den Jugendvollzug verlegt wurde.
Nach sechs Monaten haben die Gerichtsverhandlungen angefangen. Es waren elf Termine bis zu meiner Verurteilung. Seit zehn Monaten bin ich jetzt in Haft. Und kann nur sagen: Leute, trinkt immer nur so viel, dass ihr noch wisst, was ihr macht. Am besten, ihr trinkt gar nicht.
Akho für Sascha: Trainer, das Leben ist nichts ohne Liebe - so wie das Training ohne Coach
Text von Akho (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ein Trainer ist jemand, den du brauchst, um den Kopf frei zu kriegen. Egal, welchen Sport du machst, um dich wohlzufühlen – respektiere deinen Trainer. Denn dein Trainer ist die Person, die dich aus dem tiefsten Untergrund zieht, um dich wieder aufzubauen.
Als ich meinen Trainer kennenlernte, öffnete ich mein Herz. Und als ich ins Training kam, fühlte ich mich wie zuhause.
Die Wut, das Trauma, diese negativen Gedanken sind mit einem Mal weg, wenn ich beim Training bin. Jede Woche ging ich mit hundertprozentiger Motivation zum Training, um mich aufzubauen und glücklich zu sein.
Ein Ort, der mein Leben änderte, wofür ich Gott bis heute danke, denn so ein Geschenk bekommt man kein zweites Mal.
Ich bin sehr glücklich darüber, meinen Trainer kennengelernt zu haben, denn nach all den Jahren harten Trainings zeigte er mir damit meine Zukunft. Jetzt befinde ich mich hinter Gittern, doch es macht ihm nichts aus. Er hilft mir, steht mir zur Seite, unterstützt mich in guten wie auch in schlechten Zeiten. Er pusht mich immer wieder, wenn es mir nicht gut geht, und das macht mich glücklich. Er ist aber nicht nur für mich da, sondern auch für meine Familie. Er unterstützt sie bei vielem, und er beruhigt sie, dass es mir gut geht.
Wenn ich hier mit ihm telefoniere und er immer lacht, bringt er mich wieder zum Lächeln. Deswegen sehe ich ihn nicht nur als Trainer, sondern als Teil meiner Familie. Er ist für mich wie ein Onkel. Das ist auch gut so, denn so ein Verhältnis zu einem Trainer zu haben, macht das Leben im Knast etwas leichter und zeigt mir, dass es Leute gibt, auf die ich mich verlassen kann.
Ich habe ihn in mein Herz geschlossen, als Teil meiner Familie, und das wird so bleiben, bis ich die Erde verlasse. Mein Herz gebe ich ihm, und die Entscheidungen, die ich treffe – weil es nach all den Jahren Hass, Krieg, Gewalt und Schicksalsschlägen immer noch einen Menschen gab, der sah, dass aus mir was werden kann.
Seitdem ich in Haft bin, ist mir bewusst geworden, wie wichtig Training für mich ist. Deshalb trainiere ich weiter. Ich trainiere, um mich von meinen Problemen abzulenken und um die Zeit schnell zu überbrücken. Aber es gibt Tage, an denen mich all die Probleme überwältigen. Doch ich bleibe fokussiert und konzentriere mich. Damals warnte mich mein Trainer und sagte mir, ich solle keine Scheiße bauen. Das ist mir hier in der Haft bewusst geworden.
Draußen hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Oder habe sie mir nicht genommen. Leider kann ich die Zeit nicht zurückdrehen, aber ich kann mich auf das, was ich habe, konzentrieren und das Beste daraus machen. Mit dieser Einsicht und Reife komme ich auf jeden Fall stärker hier raus.
Die Liebe begleitet uns durch schwere Zeiten und bringt uns immer wieder zusammen. So, wie der Trainer uns durch schwere Zeiten steuert und uns nach vorne bringt.
O.M.E.: Leben im Brennpunkt
Text von O.M.E. (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Als ich anfing zu dealen, wurde mein Freundeskreis kleiner. Aber dafür wurden meine Jungs und ich zu einer Art Familie. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass man mich „Asi“ nannte. Irgendwie fand ich es auch ganz cool. Wenigstens unterschied mich das von den Leuten, von denen ich mich unterscheiden wollte.
Wir hingen täglich vorm Dönerladen ab – ein großer Platz, von dem eine kleine Allee abging, die auch gleichzeitig die Haupteinkaufsstraße war. Der Platz hatte gar keinen richtigen Namen, aber weil dort der große Dönerladen war, hieß er für uns eben „vorm Dönerladen“. Das war schon ein geflügeltes Wort. Der Platz hatte seinen ganz eigenen Charme. Es war eigentlich ein total kaputter Ort. In der Telefonzelle, die da rumstand, hat es ständig nach Schore (Heroin, Anm. d. Red.) gerochen. Am Boden lag überall Alufolie, die die Junkies einfach fallenließen, nachdem sie sich ihren Schuss gesetzt hatten.
Der Platz war für uns so etwas wie ein zweites Wohnzimmer. Vorm Dönerladen hingen sämtliche Kanaken (Anm. d. Red.: Hierbei handelt es sich – anders als man zuerst vermuten würde – nicht um eine rassistische Zuschreibung, sondern um eine Eigenbezeichnung einer sozialen Gruppe. Und da der Autor des Textes sich dieser Gruppe zugehörig fühlt, nutzt er deren Eigenbezeichnung. Hingegen wären die Bezeichnungen „Kanake“ und „Asi“ als Fremdbezeichnung zweifellos rassistisch und despektierlich. Auch das N-Wort wird in einem bestimmten Soziotop gerne als Eigenbezeichnung genutzt. Natürlich verwenden wir bei den Haftnotizen keinerlei rassistische Zuschreibungen und achten sehr sorgfältig auf die Wortwahl.) aus dem Viertel ab. Sie parkten dort mit ihren Benzen und ihren BMW und brachten ihre Kampfhunde und ihre Gangsterfreunde mit. Und deswegen bekamen wir vorm Dönerladen auch regelmäßig Besuch von der Polizei. Jeden Tag kamen sie vorbei. Als wäre der Platz vorm Dönerladen so etwas wie das Zentrum des internationalen Verbrechens gewesen. Es fuckte uns schon ab, als wir von Weitem die Streifenwagen vorfahren sahen. Als die Polizisten dann ein paar Minuten später vor uns ausstiegen, riefen sie meistens so etwas wie: „Überraschung, Jungs!“ Ich konnte mir schon meine Uhr nach diesen Überraschungen stellen. Immer wieder nahmen sie unsere Personalien auf und durchsuchten uns. Einer von ihnen fragte mich: „Wie heißt du, Kleiner?“ Ich habe geantwortet: „Müssten Sie das nicht schon langsam auswendig wissen?“
Es war wirklich jeden Tag dasselbe Spiel, das einfach nur aus Prinzip gespielt wurde. Warst du ein Kanake und in der falschen Ecke unterwegs, wurdest du abgefuckt. Das galt dann auch für die, die noch nie in ihrem Leben irgendwas angestellt hatten.
Aber wir waren die Asis. Eine Erkenntnis, die sich rumzusprechen schien. Es wurde immer schlimmer. Von Tag zu Tag wurden die Kontrollen schärfer, und es war für uns mittlerweile normal, dass zig Streifenwagen vorfuhren und die Polizisten uns gegen die Wand pressten und durchsuchten. Wer weglief und dabei nicht schnell genug war, kassierte auch mal Schläge. Andererseits haben wir denen auch nichts geschenkt. Wir sind immer wieder auf die Uniformierten losgegangen. Wenn mal ein einzelnes Polizeiauto vorgefahren war, sind wir direkt mit zwanzig Mann auf sie losgegangen.
Mittlerweile war ein Jahr vergangen, und meine Karriere als Drogendealer lief besser als je zuvor. Ich war fünfzehn und expandierte. Ich hatte mir einen ordentlichen Kundenstamm aufgebaut und zu dieser Zeit zum ersten Mal ein bisschen Geld auf der Tasche. Keine Unmengen, aber im Gegensatz zu früher konnte ich hier und da auch mal einen Hunderter ausgeben. Ich war auf dem besten Weg, wirklich ein Gangster zu werden.
Nach der Schule war ich gerade dabei, ein paar Kunden in der Wohnsiedlung zu beliefern, als mich Dilowans (Namen geändert) kleiner Bruder Ali abfing. Dilowan war hier in der Gegend ein großer Dealer, den jeder kannte. Ali war ganz aufgeregt. „Du musst sofort mitkommen! Mein Bruder will dich sprechen.“ „Was, warum denn?“, fragte ich. Er zuckte nur mit den Schultern und zog mich mit. Ich habe nicht mal gewusst, dass Dilowan meinen Namen überhaupt kannte. Und jetzt wollte er etwas mit mir besprechen. In meinem Kopf liefen tausend Filme ab. Wahrscheinlich ging es um meine Drogengeschäfte. Ich wusste, wo die Jungs von Dilowan ihr Zeug verkauften, und habe wirklich versucht, niemandem in die Quere zu kommen. Wahrscheinlich war ich trotzdem irgendwem auf die Füße getreten. Und jetzt würde ich meine Quittung bekommen. Fuck. Dilowan war niemand, mit dem ich mich anlegen wollte.
Ich stellte mich also auf das Schlimmste ein. Dilowan und seine Leute warteten vorm Dönerladen auf mich. Er war ein großer Mann, schlank, und mit extrem kräftigen Armen. Er lächelte mich an. Ich war extrem nervös. „Gib uns dein Handy“, sagte einer seiner Jungs. Ich zögerte. Dilowan sagte: „Keine Sorge, wir wollen nur auf Nummer Sicher gehen“. Ich gab dem Typen also mein Handy. Dilowan ging zwei Schritte auf mich zu, legte seinen Arm um meine Schulter und sagte: „Lass uns eine Runde spazieren gehen.“ Er wirkte nicht so, als wollte er mir Ärger machen. Im Gegenteil, er war sehr herzlich. „Man spricht hier viel über dich“, sagte er. „Man sagt, du würdest dealen. Man sagt, du machst deinen Job gut. Und du weißt, wann du die Fresse halten musst.“
Ich nickte. „Du bist vorsichtig“, fuhr er fort. „Die Kunden kennen nicht mal deinen richtigen Namen.“ An diesem Tag fing ich an, für Dilowan zu verkaufen. Und war wieder einen Schritt näher dran, ein echter Gangster zu werden.
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DIE HAFTNOTIZEN
Kolumne mit kreativen Texten aus der JVA Hahnöfersand
Die Autoren sind allesamt Jugendliche und junge Erwachsene aus der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand. Sie nehmen an der dortigen Gruppe für kreatives Schreiben teil, mit der fachlichen Begleitung der Autorin und Schreibtrainerin Tania Kibermanis.