Haftnotizen Ausgabe 42

Übersicht

Jeder Mensch braucht Orientierung im Leben. Als Kinder orientieren wir uns ganz selbstverständlich an unseren Eltern und anderen Erwachsenen. Je älter wir werden, umso mehr Menschen und Möglichkeiten gibt es, nach denen wir uns ausrichten können. Einige Entscheidungen treffen wir aus dem Bauch heraus, bei anderen kommen wir ins Grübeln. Vor allem, wenn alle Zeichen in unterschiedliche Richtungen zeigen, ist es gar nicht so einfach, einen Weg zu wählen. Und ob man richtig abgebogen ist, zeigt sich immer erst im Nachhinein. In dieser Ausgabe der HAFTNOTIZEN machen sich die Verfasser Gedanken über Abzweigungen auf dem Lebensweg und deren Folgen.

Hinweis: Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.

Meinungsfreiheit

Wie immer ist uns Meinungsfreiheit sehr wichtig – deshalb äußert der jeweilige Verfasser seine ganz persönliche Meinung, die nicht unbedingt vom gesamten Team der Haftnotizen geteilt werden muss.

Schreibtrainerin: Tania Kibermanis


Akho: Welche drei richtigen Entscheidungen habe ich bisher in meinem Leben getroffen?

Text von Akho (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)

Es gibt in meinem Leben wirklich viele Dinge, die ich bereue. Dazu gehört vor allem die Straftat, wegen der ich hier in H-Sand gelandet bin. Und wegen der auch mein Vater sehr gelitten hat. Aber wenn ich darüber nachdenke, habe ich auch einige gute Entscheidungen getroffen:

Ich habe eine Ausbildung zum Altenpfleger begonnen. Ich konnte damit hilfsbedürftige Menschen unterstützen, habe ihnen Angebote gemacht, um sie aus der Verzweiflung zu holen, und habe die alten Menschen zum Lachen gebracht. Diese Arbeit hat mir mein Herz geöffnet und mich oft von negativen Dingen abgelenkt.

Eine andere gute Entscheidung war, trotz vieler Schicksalsschläge nicht den Weg meiner Kumpels einzuschlagen und zu Drogen zu greifen. Ich habe noch nie in meinem Leben Drogen genommen. Ich habe so viele Menschen gesehen, die am Boden und total kaputt waren und wegen der Drogen ihre Familie verloren haben. Man wird süchtig, braucht immer mehr, fängt an zu lügen. Ich habe meiner Familie versprochen, meine Finger immer von Drogen zu lassen. Und ich habe mich daran gehalten.

Meine dritte gute Entscheidung war, mich bewusst für den Sport zu entscheiden. Das schien mir angemessener und nützlicher. Im Sport halte ich mich fit und gesund und habe auch Platz für meine Aggressionen. Ich war oft in Schlägereien verwickelt, weil ich auch Wut aufgestaut hatte. Trotzdem hat mir der Sport geholfen, und bis heute bin ich meinem Trainer sehr dankbar. Er ist durch seine Unterstützung wie ein Onkel oder ein Familienmitglied für mich geworden.


Mr. Afro: Wie fühlt es sich an, in den Knast zu kommen?

Text von Mr. Afro (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)

Als ich meine erste Gerichtsverhandlung hatte, war ich echt aufgeregt. Einerseits, weil ich nicht wusste, was auf mich zukommt. Und andererseits, weil ich meine Freundin wiedersehen konnte. Zum ersten Mal seit sechs Monaten. Weil ich ein Haftstatut hatte – was bedeutet, dass man verschiedene Einschränkungen hat. Bei mir zum Beispiel war es so, dass ich nicht jeden Besuch bekommen und nicht telefonieren durfte. Wenn ich von jemand Bestimmtem Besuch haben wollte, musste dafür zuerst der Staatsanwalt zustimmen. Und meine Briefe wurden vom Richter kontrolliert.

Es war ein komisches Gefühl, als ich zum ersten Mal nach der Tat mein Opfer wiedergesehen habe. Im Gerichtssaal hat er mich kein einziges Mal angeschaut. Ich habe ihm angemerkt, dass er richtig Hass auf mich hat. Ich habe dem Richter im Gespräch gesagt, dass ich mich gerne bei meinem Opfer entschuldigen würde. Aber er wollte gar keine Entschuldigung von mir annehmen.

Ich hatte die ganze Zeit ein kleines Stück Hoffnung, dass ich vielleicht doch nur Bewährung bekomme. Bei meinem letzten Gerichtstermin wusste ich, dass es doch die Haftstrafe werden würde. Ich habe diese Anspannung direkt gefühlt, als ich in den Gerichtssaal gekommen bin. Mit meiner Strafe war ich trotzdem nicht zufrieden, obwohl mir auch gedroht hatte, dass es noch mehr hätte sein können. Der Staatsanwalt hatte fünf, der Nebenkläger sechs Jahre gefordert. Vier Jahre und drei Monate Jahre habe ich dann bekommen.

Dieses Gefühl, als ich in den Knast gekommen bin, war schlimm, weil ich mich zum ersten Mal im Leben machtlos gefühlt habe: Egal, was du machst – du kannst an der Situation gerade nichts ändern. Du bist eingesperrt. Deine Familie ist traurig, und auch daran kannst du nichts ändern. Doch als ich mein Urteil bekommen habe, habe ich mich richtig erleichtert gefühlt. Dieser ganze Druck war auf einmal weg. Ich konnte mich besser auf die nächsten Jahre einstellen und das Beste daraus machen. Mit der Zeit gewöhnt man sich dann etwas an die Machtlosigkeit. Man hat ja keine andere Wahl.


Locke: Für welche Berufe bräuchte man dringend ein psychologisches Gutachten und warum?

Text von Locke (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)

Meiner Meinung nach herrscht in der Arbeitswelt in jeglicher Hinsicht viel zu wenig Kontrolle über die Arbeitenden und deren Qualifikationen. So gibt es beispielsweise immer wieder Polizeibeamten, die Gewalt anwenden, BetreuerInnen mit pädophilen Neigungen, Ärzte, die die Gesundheit ihrer Patienten durch Fehleinschätzungen maßgeblich verschlechtern, Bus- und Rettungswagenfahrer, die gar nicht richtig fahrtauglich sind und Unfälle bauen – all diese Dinge treten glücklicherweise selten auf, aber sie existieren dennoch.

Vielleicht könnte man all diese Fehler nicht vollständig verhindern, aber doch zumindest deutlich minimieren, indem man für diese Berufsgruppen psychologische Gutachten anwendet. Ich persönlich würde es so handhaben, dass man eine Liste aller Berufe erstellt, für die ein psychologisches Gutachten nötig wäre. Diese Liste könnte man anhand einer Umfrage erstellen, an der die Bevölkerung von ganz Deutschland beteiligt wäre. Wenn die Umfrage ausgewertet und die Liste dann erstellt wäre, soll man bei allen Angehörigen der aufgezählten Berufsgruppen psychologische Gutachten durchführen. Ich würde vorschlagen, dass man diese Gutachten alle zwölf, bei Bedarf aber auch schon alle sechs Monate erneuern muss, da Menschen sich sehr schnell verändern können. Durch besondere Vorfälle oder Erlebnisse kann ein Mensch über viele Dinge plötzlich anders denken oder in bestimmten Situationen anders reagieren. Oder plötzlich ein Drogen- oder Alkoholproblem bekommen. Vielleicht kommt der betreffende Mensch in eine persönliche Krise und verliert schneller die Nerven. Oder er bekommt eine psychische Krankheit, die er vielleicht selbst zuerst nicht merkt, die aber von einem Gutachten entdeckt werden könnte. Deswegen halte ich es für wichtig, dass man die psychologische Eignung in der Berufswelt häufiger überprüft.


TPO2: Straffällige Jugendliche

Text von TPO2 (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)

Mehr als die Hälfte der Leute in meinem Bekanntenkreis sind straffällig oder waren es. Vielleicht liegt es an ihrer Perspektive, ihrem Blick aufs Leben, oder vielleicht auch daran, dass es ihnen Spaß macht. Ich denke, sowas hat viele Gründe. In meiner Schulzeit haben viele Lehrer zu uns gesagt, dass aus uns nie was wird und dass wir doch eh im Knast landen werden. Ich denke, auch so eine selbsterfüllende Prophezeiung hat vielleicht zu manchen Lebensläufen beigetragen. Dass einem nichts anderes zugetraut wurde. Ich bin in ärmeren Gegenden aufgewachsen. Manchmal gab es kein Geld für den Schulbus, und wir sind nie draußen essen gegangen. Zwei Zimmer und zu viele Leute in der Wohnung. Ich könnte noch viel weiter aufzählen, aber ihr wisst, was ich meine. Sowas prägt doch. Irgendwann hat man keinen Bock mehr drauf. Und es stellt sich die Frage: Ganz ehrlich machen oder nicht? Ich werde ja sowieso ständig kontrolliert und unter Verdacht gestellt, weil ich Jugendlicher bin, in einem Brennpunkt lebe , und mit der Zeit lässt mich das Gefühl auch nicht mehr los, dass mein Migrationshintergrund meine Lage und den Eindruck, den man von mir hat, nicht wirklich besser macht.

Als ich ungefähr vierzehn war, hat mich ein Älterer aus meiner Gegend angesprochen. Ihm war aufgefallen, dass ich anscheinend viele Leute kenne und mit meinen Jungs ehe den ganzen Tag am Scheiße bauen war. Und kurz darauf hat es angefangen mit dem Verkaufen. Nicht nur ich- auch meine Jungs waren dabei. Sie haben das ziemlich ernst genommen. Mir hat das Geld natürlich gefallen, aber irgendwie war das nicht meins – für irgendwen auf der Straße Gras verkaufen. Wir waren noch nicht mal sechzehn, als wir uns dann damit selbstständig gemacht haben. Und so haben wir die letzten Jahre damit verbracht, unsere Brieftaschen und unsere Kühlschränke zu füllen.

Während meine Jungs konstant dabeigeblieben sind, hab ich alle möglichen anderen Sachen gemacht. Hauptsache, das Geld hat gestimmt. Und ich konnte mich davon ablenken, dass ich die Schule und mein Berufsleben ziemlich verkackt habe. Man kommt eben ganz schwer wieder raus, wenn man einmal auf die kriminelle Schiene umgestiegen ist.

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DIE HAFTNOTIZEN

Kolumne mit kreativen Texten aus der JVA Hahnöfersand

Die Autoren sind allesamt Jugendliche und junge Erwachsene aus der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand. Sie nehmen an der dortigen Gruppe für kreatives Schreiben teil, mit der fachlichen Begleitung der Autorin und Schreibtrainerin Tania Kibermanis.

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