Die Verfasser dieser HAFTNOTIZEN geben uns Einblicke in ihre bewegten Lebenswege. Diese sind von vielen Veränderungen und Ungewissheiten bereits in jungen Jahren geprägt. Dabei stellt sich schon früh die Frage nach der eigenen Identität. Und welchen Einfluss haben Armut und Reichtum darauf, wie man sich entfalten kann? Ein weiterer Change ist die Entlassung aus der Haft, die im besten Fall mit lieben Menschen gefeiert wird.
Hinweis: Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.
Meinungsfreiheit
Wie immer ist uns Meinungsfreiheit sehr wichtig – deshalb äußert der jeweilige Verfasser seine ganz persönliche Meinung, die nicht unbedingt vom gesamten Team der Haftnotizen geteilt werden muss.
Schreibtrainerin: Tania Kibermanis
Gypsy: Wer bin ich überhaupt?
Text von Gypsy (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ich bin Gypsy, 19 Jahre alt, und eigentlich ein netter Mensch. Mit 13 Jahren wurde ich vom Jugendamt in Obhut genommen, weil meine Mutter mich nicht mehr nach Hause hat kommen lassen, weil ich so oft zu spät gekommen bin. Dann hat sie ab einer bestimmten Uhrzeit die Klingel einfach ausgemacht und erst morgens wieder angeschaltet. Also bin ich in eine Wohngruppe gekommen. Dort war ich fast ein Jahr, dann hat sich das Verhältnis zu Mum wieder verbessert, und ich bin wieder zu ihr gezogen. Nach ungefähr vier bis fünf Monaten, als ich 15 Jahre alt war, sollte ich mit zu ihrer Arbeit kommen und ihr helfen. Dort kam sie nach zwei Stunden zu mir und sagte auf einmal: „Los geht’s!“ Ich meinte: „Wie – los geht’s?“ Sie: „Ja, du wirst jetzt mitgenommen, du hast die Wahl – Haft oder eine Wohngruppe in NRW. Da war ich erstmal geschockt und hab angefangen zu weinen. Ich bin dann aber nach NRW gegangen. Dort im Heide-Haus war ich dann knapp 11 Monate und hab eine Ausbildung als Maler angefangen, die aber abgebrochen, weil mein kleiner Bruder angefangen hat, genau die gleiche Scheiße zu machen, die ich auch gemacht habe. Deswegen bin ich wieder zurück zu meiner Mum. Da war ich 16 Jahre alt.
Wir wohnten noch drei oder vier Monate in Hamburg, dann sind wir nach Frankfurt/Oder gezogen. Nach kurzer Zeit hab ich mich dann mit dem Freund meiner Mum gestritten, weil er nackt durch die Wohnung gelaufen ist. Natürlich war meine Mum auf der Seite ihres Freundes, und deswegen habe ich ihr ein Ultimatum gestellt: wir – ihre Söhne – oder ihr Freund. Natürlich hat sie sich für ihren Freund entschieden, und dann habe ich meinen Bruder genommen und bin mit ihm nach Hamburg gefahren. In Hamburg angekommen sind wir zu unserem Vater gegangen, und nach einer Woche wollte meine Mum dann meinen kleinen Bruder zurück. Mich nicht. Dann ist mein Bruder wieder zu unserer Mum zurück, und ich bin bei meinem Vater geblieben. Weil mein Vater speziell ist, hab ich es nicht lange bei ihm ausgehalten. Ich bin dann weg von ihm, hab mal hier und da gewohnt, viel getrunken, dann Straftaten begangen, als ich besoffen war. Das Verhältnis zu meiner restlichen Familie hab ich auch verloren und bin dann mit 17 Jahren das erste Mal in Haft gekommen.
Nach vier oder fünf Monaten wurde ich entlassen und bin zu meiner Oma nach NRW gezogen. Das war die beste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Dort lief erstmal alles gut. Ich habe meine jetzige Freundin kennengelernt. Und ich habe wieder ein engeres Verhältnis zu meinem Bruder und meinem Onkel bekommen. Als ich noch in Hamburg war, hatte ich dann mit meinem Bruder kaum noch Kontakt, zu meinem Onkel jahrelang gar nicht. Das Verhältnis zu meinem Bruder und meinem Onkel ist inzwischen unzerstörbar. Durch meinen Bruder habe ich meine heutige Freundin kennengelernt, und zum Glück unterstützt sie mich hier drinnen sehr. Durch sie habe ich endlich ein Ziel in meinem Leben.
In NRW lief dann doch noch einiges schief – bei meiner Oma bin ich rausgeflogen und bin dann für fünf Monate zu meiner Freundin gezogen. Hab mich dann im Februar gestellt, weil ich endlich mein Leben auf die Reihe bekommen will. Ich mache jetzt meinen ESA, und sobald ich entlassen werde, bau ich mir mit meiner Freundin ein normales Leben auf.
Meiner Meinung nach ist alles in meinem Leben so abgelaufen, weil es so laufen sollte. Hört sich vielleicht dumm an, aber ich hätte nicht das Verhältnis zu meiner Mum verloren, wenn ich draußen keine Straftaten begangen hätte. Dann wäre ich nicht in Haft gekommen, dann hätte ich nie das Verhältnis zu meinem Bruder und meinem Onkel wieder aufgebaut. Deswegen passiert alles aus einem bestimmten Grund.
Seit knapp einem Jahr habe ich übrigens einen Glücksbringer. Nämlich meine Kette, die ich von meiner Freundin geschenkt bekommen habe. Die Kette nehme ich nie ab. Und wenn doch, dann habe ich direkt schlechte Laune und fühle mich irgendwie leer. Aber sobald ich sie wieder trage, fühle ich mich wieder normal. Deswegen ziehe ich sie nie aus, weil die Kette auch irgendwie eine emotionale Stütze hier drinnen ist und ich meine Freundin so immer bei mir trage.
Eine Beziehung im Knast zu führen ist nicht so einfach. Wenn man sich von jetzt auf gleich trennen muss, und das für eine längere Zeit – das ist gerade am Anfang sehr schwer. Nach einiger Zeit wird es etwas einfacher, aber man vermisst sich trotzdem jeden Tag immer mehr und mehr. Die Person draußen ist nicht in Haft, für sie geht das Leben weiter. Entweder sie geht zur Schule oder arbeiten, während du hier drin bist in dieser vakuumierten Dose. Du machst jeden Tag das Gleiche: aufstehen, Schule, Arbeit, um 15:30 Uhr ist Einrücken aufs Haus. Dann ziehst du dich um für die Freistunde, die von 16-17:00 Uhr geht, dann hast du Freizeit, in der du telefonieren kannst. Du willst deine Partnerin anrufen, dann geht sie vielleicht nicht ran, weil sie irgendwo unterwegs ist, weil sie draußen einen komplett anderen Tagesablauf hat. Das fuckt dann schon echt ab. Da freut man sich den ganzen Tag auf ein Gespräch, und dann ist sie nicht da. Deswegen ist eine Beziehung im Knast echt schwer. Aber trotzdem machbar.
Congo: Haben die Kinder von reichen Eltern bessere Möglichkeiten als die von armen Eltern?
Text von Congo (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Im Leben kann man nicht entscheiden, wo man zur Welt kommt – in einem reichen oder einem armen Land, im Krieg, in einer reichen Familie oder einer armen. Jeder sollte die gleichen Möglichkeiten haben, im Leben erfolgreich zu werden. Leider ist das oft nicht so, wenn man aus einem Land in der Dritten Welt kommt. Dort ist es sehr schwierig, von der Armut wegzukommen. Aber es gibt immer Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man flüchten. Oder man kann versuchen zu studieren, um später einen guten Job zu bekommen, aber das ist auch schwierig, wenn einen die Familie dabei ökonomisch unterstützen muss. Und wenn man schon ganz jung die Schule verlassen muss. Dagegen ist es ganz anders, wenn man aus einer reichen Familie kommt. Die Kinder gehen meistens in private Schulen und bekommen eine bessere Förderung. Meistens ergreifen sie den gleichen Beruf wie ihre Eltern, weil die ein gutes Vorbild sind. Die Kinder wollen dann noch besser als ihre Eltern werden, um sie nicht zu enttäuschen.
Diese Welt ist unfair, man hat viel bessere Möglichkeiten im Leben, wenn man in einem angemessenen Umfeld aufwächst. In meinem Fall musste ich aus meinem Heimatland flüchten, um mir eine bessere Zukunft aufzubauen. Obwohl ich meine Heimat liebe, hatte ich keine anderen Möglichkeiten. Meine Familie und ich haben 2011 entschieden, unser Heimatland Burkina Faso zu verlassen. Zuerst reisten mein Vater und ich nach Marokko, drei Wochen lang über Nigeria und Togo. Dann sind wir in Rabat angekommen und von dort nach Tanger. Dort sind wir 3,5 Wochen geblieben, bis wir zwei Plätze auf einem Boot hatten. Dafür haben wir 2000 Dirham gezahlt, das sind umgerechnet 187,- Euro. Auf dem Boot war eigentlich nur Platz für zehn Menschen, aber wir waren achtzehn. Die meisten waren Männer aus Südafrika, Mali, Kongo – alle ohne Papiere. Mein Vater und ich hatten eine kleine Tasche dabei, da hatten wir unsere Pässe, etwas Kleidung, Wasser, Geld und Essen drin. Wir sind eine Stunde lang gefahren, bis wir in der Nähe von Gibraltar ankamen. Von dort aus hat jeder von uns seinen Weg genommen.
Die erste Nacht haben wir auf der Straße verbracht. Es war zum Glück Sommerzeit und überhaupt nicht kalt. Aber es war trotzdem nicht angenehm. Am nächsten Tag sind wir zu einem Flüchtlingscamp gelaufen, dort haben wir ein Zimmer mit zwei Betten bekommen. Die ersten Tage blieb ich dort, und mein Vater hat sich auf die Suche nach Lebensmitteln und Arbeit gemacht. Nach einer Woche haben wir die erste gute Nachricht bekommen: Mein Vater hatte Arbeit auf dem Bau gefunden, leider zuerst ohne Vertrag, ohne nix. Aber das war unser erstes Einkommen. Mein Vater hat bis zu 15 Stunden am Tag gearbeitet, sechsmal die Woche. Dafür hat er jeden Monat unterschiedlich viel Geld bekommen, mal 550 Euro, manchmal nur 400 – es war nie fest und nie genug.
Deshalb glaube ich, dass Menschen leider nicht die gleichen Chancen haben.
Tonis Wunschentlassungstag
Text von Toni35 (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Es ist ein Mittwoch, es ist kühl, und die Sonne kommt langsam raus. Toni wird gerade von der Zahlstelle zum Entlassungstor gebracht. Er hat niemandem außer seinem Bruder gesagt, dass er heute entlassen wird. Als er durch das Tor tritt, hört er Geschrei und Gejubel. Der Parkplatz ist voller Autos und voller Brüder, die Toni während seiner achtjährigen Haftzeit unterstützt haben. Seine Frau sprintet auf ihn zu, hält ihn doll fest und schreit wiederholt: „Endlich!“ Toni umarmt die ganzen Jungs fest und bedankt sich dafür, dass sie während aller Höhen und Tiefen an seiner Seite standen. Toni beschließt, lecker essen zu gehen – auf seine Kosten. Doch die Jungs akzeptieren natürlich nicht, dass er bezahlt. Sie fangen an, sich auf die Autos aufzuteilen und diskutieren, bei wem Toni mitfährt. Aber er hat sich natürlich für das Auto seiner Frau entschieden. Während der Fahrt lässt Toni seine Haftzeit im Schnelldurchlauf Revue passieren. Später am Esstisch ist Toni dann sehr ruhig. Jeder, der versucht, mit ihm zu reden, bekommt keine richtige Antwort. In seinem Kopf ist er bei seinen Eltern, denn die wissen gar nicht, dass er schon draußen ist. Er plant, bei ihnen gleich einen Überraschungsbesuch zu machen. Immerhin hat sein Bruder schon dafür gesorgt, dass die Eltern heute beide zuhause bleiben. Nach dem Essen machen alle gemeinsam noch ein Foto, das veröffentlichen sie dann in den sozialen Medien, so dass jetzt jeder weiß: Toni is back! Danach verabschiedet er sich von den Jungs und fährt mit seiner Frau zu den Eltern. Dort machen sie sich den schönsten Tag, den man sich mit seiner Familie nur machen kann.
Feedback
Die Verfasser der Artikel freuen sich sehr über Feedback zu ihren Texten. Schreibt uns gerne Lob und Kritik an jugendinfo@bsb.hamburg.de und wir leiten eure Rückmeldungen (anonymisiert) weiter.
DIE HAFTNOTIZEN
Kolumne mit kreativen Texten aus der JVA Hahnöfersand
Die Autoren sind allesamt Jugendliche und junge Erwachsene aus der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand. Sie nehmen an der dortigen Gruppe für kreatives Schreiben teil, mit der fachlichen Begleitung der Autorin und Schreibtrainerin Tania Kibermanis.