Zwischen zwei Welten aufzuwachsen, bedeutet oft, in keiner davon sich wirklich zugehörig zu fühlen. Eduard erzählt von dieser Zerrissenheit hin und her zu pendeln; zwischen Roma-Tradition, deutschem Alltag und einer Jugend voller Konflikte. Adan wiederum fand seine Leidenschaft im Thai-Boxen, wo Schweiß, Technik und Härte sein Leben bestimmten – bis ihn eine schwere Schulterverletzung stoppte. Gypsy und Yobi finden Trost und Kraft in der Musik, die sie durch ihren Alltag trägt und Beso überlebte das Unfassbare: Entführung, Folter und die tödliche Flucht über das Meer.
Fünf Stimmen, fünf Schicksale, fünf Geschichten voller Wunden und Wunder, die die Sehnsucht nach Freiheit und ein Leben in Würde beschreiben.
In diesem Sinnen wünschen wir wieder viele positive und gute Gedanken beim Lesen!
Hinweis: Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.
Meinungsfreiheit
Wie immer ist uns Meinungsfreiheit sehr wichtig – deshalb äußert der jeweilige Verfasser seine ganz persönliche Meinung, die nicht unbedingt vom gesamten Team der Haftnotizen geteilt werden muss.
Schreibtrainerin: Tania Kibermanis
Eduard: Meine Familie
Text von Eduard (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Mein Vater kommt aus Deutschland (Hessen), meine Mutter aus Rumänien, aus einem kleinen Dorf in der Nähe der ungarischen Grenze, wo Roma gesprochen wird. Die beiden haben sich vor ungefähr dreißig Jahren über meine Tante und meinen Onkel kennengelernt. Wir sind fünf Kinder und haben zuhause Deutsch und Roma gesprochen, weil meine Mutter nie so richtig gut Deutsch sprechen konnte. Aber ich habe immer mehr Deutsch als Roma gesprochen, weil wir nur in den Sommerferien bei meinem Opa in Rumänien zu Besuch waren.
Ich fühle mich unzugehörig, weil ich in Deutschland als Ausländer und in Rumänien als Deutscher gesehen werde. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr wurde ich regelmäßig kontrolliert, weil ich auch schon öfter mit Marihuana erwischt wurde. Diese Situationen waren oft unangenehm, weil ich da mit weiblicher oder nichtkrimineller Begleitung unterwegs war, die bis dato gar nicht gewusst hatten, dass ich überhaupt was mit Drogen zu tun hatte. Daraufhin ist der Kontakt abgebrochen, weil das nicht deren Welt war – was dann dazu führte, dass mein Freundeskreis innerhalb kürzester Zeit nur noch aus Dealern und Lieferanten bestand und ich noch tiefer in die Szene gerutscht bin.
Wenn ich in Rumänien war, habe ich wegen der sengenden Hitze tagsüber meistens viel geschlafen, und abends bin ich dann mit meinem Neffen in seiner Shisha-Bar gewesen, habe ein paar Wasserpfeifen geraucht, war oft in der Stadt spazieren und habe beim Bäcker was Süßes gegessen. In meinem Dorf wohnt Arm neben Reich, Villen neben Lehmhäusern mit alten Dachziegeln, Bauern neben Großhändlern und Schön neben Hässlich.
Seitdem meine Mutter gestorben ist, besitzen meine Brüder und ich inzwischen ein Haus in Rumänien, das wir so lange untervermieten, bis wir wieder dorthin fahren. Die ausländische Küche gefällt mir besser wegen der Vielfalt und den Gewürzen, aber ich esse auch gern Currywurst und Schnitzel.
Adan: Thai-Boxen
Text von Adan: (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ich habe im Alter von vier bis zwölf Jahren zuerst Judo gemacht. Als mein Trainer Krebs bekommen hat, habe ich aufgehört, weil ich ohne ihn keinen Spaß mehr daran hatte. Ich wollte aber trotzdem weiter Sport machen, also habe ich mir gedacht, da ich mich damals sowieso gern geschlagen habe, mit Thai-Boxen anzufangen. Mit dreizehn habe ich angefangen. Es hat mir gefallen, weil man Fäuste, Kicks, Ellbogen und Knie einsetzen darf. Kämpfe habe ich keine gemacht.
Das Training war anstrengend und wurde mit der Zeit immer härter, war aber trotzdem gut. Als erstes Aufwärmen – Zirkeltraining – Ausdauertraining. Danach Stabilitätstraining, dann Sparring mit einem Partner, wieder Techniktraining, Combos lernen, üben am Sandsack. Danach freies Sparring.
Ich musste damit aufhören, weil ich meine Schulter ausgekugelt habe – meine Kapsel war kaputt, meine Gelenkslippe zerrissen, und ich durfte nach ärztlicher Empfehlung erst Monate oder Jahre später wieder mit dem Sport anfangen, weil meine Schulter nach dem nächsten Auskugeln wohl irreparabel wäre und weil das immer wieder passieren kann.
Ich mag am Thai-Boxen, dass man fast alle Körperteile benutzen darf – man darf nur nicht auf den Hinterkopf schlagen oder treten und auch nicht in den Unterleib. Das Austeilen und Auf-die-Fresse-Kriegen ist bei einem guten Kampf ausgeglichen. In meiner Zelle mache ich Schattenboxen, denke mir Combos aus, um meine Technik nicht komplett zu verlieren.
Gypsie: Musik
Text von Gypsie (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Musik spielt in meinem Leben eine sehr große Rolle. Schon als ich noch klein war, meinte meine Mom, dass ich extrem auf Musik abgegangen bin. Mein Lieblingslied zu dieser Zeit war Let me love you von irgendeinem Sänger – keine Ahnung, wie der genau heißt. Bis heute ist Musik für mich wichtig. Egal, wo ich bin oder was ich mache, ich will immer Musik hören. Ob es hier in der Haft ist oder draußen – man hat mich immer nur mit Kopfhörern gesehen. Hier drinnen ist das zwar nicht möglich, aber zum Glück gibt es hier in der Haft CD-Player, so dass man sich erlaubte CDs von draußen schicken lassen kann, so dass ich unter der Woche jeden Tag ab 17:00 Uhr Musik hören kann. Am Wochenende hat man natürlich den ganzen Tag Zeit, um Musik zu hören. Das mache ich dann auch schon ein paar Stunden beim Sportmachen oder sonst was.
Wenn ich über Nacht ein musikalisches Talent entwickeln könnte, wäre das für mich das Rappen. Weil ich den ganzen Scheiß, den ich schon in meinem Leben erlebt habe, in Texte verwandeln könnte. Daraus würden mit Sicherheit ein paar gute Lieder entstehen. Bei mir ist das so: Wenn ich Musik höre, kann ich mich am besten entspannen, weil mich dann niemand nervt und ich mich einfach nur auf die Raptexte und den Beat fokussiere. Und je mehr ich mich auf die Musik konzentriere, umso ruhiger werde ich.
Ich persönlich würde jetzt kein Instrument lernen wollen, aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich bald rauskomme. Würde ich noch länger hierbleiben, würde ich gerne Klavierspielen lernen – das ist für mich das schönste Instrument, das man lernen kann. Und draußen kommt das bestimmt auch gut bei Frauen an, wenn man Klavierspielen kann.
Yobi: Johann Sebastian Bach – Wie er die Barockmusik revolutionierte
Text von Yobi (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Johann Sebastian Bach wurde 1685 in Eisenach im heutigen Thüringen geboren. Die ganze Familie Bach ist sehr musikalisch und mehrere ihrer Mitglieder sind bis heute bekannt; wie Carl Philipp Emanuel Bach. Bei weitem am populärsten ist aber Johann Sebastian.
Zu Lebzeiten war Bach hauptsächlich als Organist und Orgelprüfer bekannt und weniger als Komponist. Bereits in jungen Jahren, im Alter von ungefähr zwanzig, komponierte er eines seiner bekanntesten Orgelstücke: Toccata und Fuge in d-Moll. Die längste Zeit in seinem Leben verbrachte Bach in Leipzig, wo er die musikalische Leitung an der Thomas-Kirche übernahm. Dadurch, dass er eine lange Zeit seines Lebens an Auftraggeber und Vorgesetzte gebunden war, komponierte Bach eine Unmenge an Kantaten. Zwei der wahrscheinlich bekanntesten Kirchenwerke sind die Matthäuspassion und die Johannespassion. Beide handeln von der Leidensgeschichte Jesu Christi bis zu seiner Hinrichtung am Kreuz und bezeugen erneut Bachs starke christliche Gesinnung. Man kann sie auf gewisse Weise als kirchliche Opern sehen. Heute bleibt vor allem die Matthäuspassion in Erinnerung – wahrscheinlich auch, weil sie mit ca. 3,5 Stunden und einer Besetzung von zwei Orchestern besonders aufwändig ist.
Mich persönlich berührt und spricht Bach an, weil seine Musik immer eine gewisse Förmlichkeit und Struktur ausstrahlt. Dazu kommt, dass Unmengen an Werken von Bach einfach wunderschön sind, wie die Kantatenstücke „Jesu bleibet meine Freude“, „Bäche von gesalznen Zähren“ oder die weltbekannte „Air“ aus der 2. Orchestersuite https://www.youtube.com/watch?v=PyMz0w2UC9s&list=RDPyMz0w2UC9s&start_radio=1. Letztere ist ein gutes Beispiel für Bachs starken Einfluss auf die Popkultur. 1967 hat die Band Procol Harum die bekanntesten Takte der „Air“ für das Intro ihres Hits „A Whiter Shade of Pale“ benutzt. https://www.bing.com/videos/riverview/relatedvideo?q=a+whiter+shade+of+pale+procol+harum&mid=3F63A471BFBC44A5770B3F63A471BFBC44A5770B&FORM=VIRE
Vielleicht das am häufigsten verwendete Stück in Gruselfilmen ist das bereits erwähnte Orgelwerk „Toccata und Fuge“.
An Sebastian Bach (wie er genannt wurde) beindruckt mich auch, wie modern seine Musik vor so langer Zeit schon war, obwohl sein Todestag 275 Jahre zurück liegt. Bemerkenswert ist auch, wie spezifisch Bach für viele Instrumente komponiert hat. So zum Beispiel die Solo-Violinsonaten oder die beiden Bände des „Wohltemperierten Klaviers“, die ursprünglich nur als Übungen für Tasteninstrumente gedacht waren.
Im Vergleich zu anderen Komponisten – wie Beethoven, der häufig etwas deprimierend wirken kann – ist Bach wegen seines umfangreichen Werkes in vielen Stimmungen zu hören. Beispielsweise die Arie der Goldbergvariationen ist sehr entspannend und beruhigend. Das 3. Brandenburgische Konzert ist dagegen sehr schwungvoll und euphorisch. Ich höre Bach gerne, weil er sehr vielfältig komponiert hat und die Emotionen, die er bewirkt, präzise und durchdacht sind.
Beso H-Sand: Meine Geschichte
Text von Beso H-Sand (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ich bin der älteste Sohn in meiner Familie. Wir leben in einer Stadt in der Nähe von Kairo, Sharqia. Wenn es bei uns Probleme gibt, müssen immer die ältesten Söhne losziehen, um mit den anderen ältesten Söhnen zu verhandeln und zu schlichten. In einem Streit mit einer anderen Familie bekam mein Vater Angst um mich, weil man drohte, mich zu töten. So schickte mich mein Vater nach Libyen.
Dort beauftragte die andere Familie die libysche Mafia, um mich gefangen zu nehmen. In Bengasi hat mich jemand gefangen und in ein Haus gesperrt. Dort wurde ich fünf Monate lang festgehalten, mit Wasser und einer Scheibe Brot am Tag. Dazu wurde ich gefoltert und geschlagen. Man hat mir eine Fingerkuppe abgeschnitten, mich mit einer Pistole bedroht, Eisen ins Feuer gehalten und mir damit Arme und Beine verbrannt. Ich wurde viel geschlagen – mal mit bloßen Händen, aber auch mit einem Stück Holz.
Diese Quälereien wurden gefilmt und meinem Vater gezeigt, der damit erpresst wurde und Geld schicken sollte. Mein Vater hat das Geld von Familienangehörigen zusammengeliehen und bezahlt, insgesamt 5000 libysche Dinar (umgerechnet ca. 800,- Euro).
Irgendwann danach wurde ich rausgelassen und auf ein Boot gebracht, das eigentlich für 150 Personen gedacht war, aber mit doppelt so vielen Menschen belegt war. Nach fünf Tagen Richtung Italien übers Mittelmeer ging das Boot kaputt und sank. Die libysche Polizei kam und hat hundert Menschen lebend aus dem Wasser gezogen. Ich war der letzte davon. Alle anderen, zweihundert Menschen, sind ertrunken.
Man brachte uns zurück nach Bengasi ins dortige Gefängnis. Der Mann, der uns jeden Tag das Essen gebracht hat, hat es uns oft ins Gesicht gekippt. Geschlagen wurden wir dort ebenfalls. Erst nach einem Jahr bin ich wieder aus dem Gefängnis rausgekommen.
Mit der Hilfe meines Vaters, der von Ägypten aus telefonierte und organisierte, kam ich bei Bekannten in Bengasi unter. Nach sechs Monaten saß ich wieder in einem Boot, diesmal waren wir 650 Menschen. Nach sechs Tagen auf dem Meer ging auch dieses Boot kaputt. Das Ruder brach, und wir trieben auf dem Meer. Erst kam ein deutsches, dann ein italienisches Boot zu Hilfe. Alle 650 Menschen wurden nach Italien gebracht. Ich kam halbtot, halb verhungert und unterkühlt in eine Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge auf Sizilien. Als ich wieder gesund war, bin ich von Sizilien nach Mailand geflüchtet. Und dann irgendwann hier in Deutschland angekommen.
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DIE HAFTNOTIZEN
Kolumne mit kreativen Texten aus der JVA Hahnöfersand
Die Autoren sind allesamt Jugendliche und junge Erwachsene aus der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand. Sie nehmen an der dortigen Gruppe für kreatives Schreiben teil, mit der fachlichen Begleitung der Autorin und Schreibtrainerin Tania Kibermanis.