Der folgende Text enthält Darstellungen von psychischer und physischer Gewalt. Bitte lies nur weiter, wenn du dich emotional stabil genug fühlst und bei Bedarf für Unterstützung sorgen kannst: Hier findest du Hilfe – Jugendinformationsportal
In dieser Ausgabe der Haftnotizen debattieren unsere Autoren sehr eindrücklich darüber, ob eine konsequente Bestrafung aufgrund von Straftaten immer auch ihre rehabilitative Wirkung zeigt.
Traumatische Kindheitserlebnisse verfolgen La M bis heute, sind sie doch Folgen von Bestrafung und Gewalt durch den Vater und Institutionen. Und eigentlich könnte die Lebensgeschichte von 61-kurdi eine Erfolgsgeschichte sein, wenn nicht Versuchungen und toxische Freundschaften seinem Leben in Freiheit und Würde entgegengearbeitet hätten. Wie schmal der Grat zwischen Ordnungsliebe, Perfektion und Zwangsstörungen sein kann und gleichzeitig belastend, weiß Kookie aus eigener Erfahrung.
Was alle Verfasser jedoch verbindet, ist ihre Suche nach einem sicheren Ort, an dem sie gehört werden und Halt finden. Am Ende bleibt die Frage, wie Gesellschaft Ordnung geben kann, ohne zu bestrafen oder zu entwerten.
In diesem Sinnen wünschen wir wieder viele positive und gute Gedanken beim Lesen!
Hinweis: Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.
Meinungsfreiheit
Wie immer ist uns Meinungsfreiheit sehr wichtig – deshalb äußert der jeweilige Verfasser seine ganz persönliche Meinung, die nicht unbedingt vom gesamten Team der Haftnotizen geteilt werden muss.
Schreibtrainerin: Tania Kibermanis
Eduard: Meine Familie
Text von Eduard (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Mein Vater kommt aus Deutschland (Hessen), meine Mutter aus Rumänien, aus einem kleinen Dorf in der Nähe der ungarischen Grenze, wo Roma gesprochen wird. Die beiden haben sich vor ungefähr dreißig Jahren über meine Tante und meinen Onkel kennengelernt. Wir sind fünf Kinder und haben zuhause Deutsch und Roma gesprochen, weil meine Mutter nie so richtig gut Deutsch sprechen konnte. Aber ich habe immer mehr Deutsch als Roma gesprochen, weil wir nur in den Sommerferien bei meinem Opa in Rumänien zu Besuch waren.
Ich fühle mich unzugehörig, weil ich in Deutschland als Ausländer und in Rumänien als Deutscher gesehen werde. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr wurde ich regelmäßig kontrolliert, weil ich auch schon öfter mit Marihuana erwischt wurde. Diese Situationen waren oft unangenehm, weil ich da mit weiblicher oder nichtkrimineller Begleitung unterwegs war, die bis dato gar nicht gewusst hatten, dass ich überhaupt was mit Drogen zu tun hatte. Daraufhin ist der Kontakt abgebrochen, weil das nicht deren Welt war – was dann dazu führte, dass mein Freundeskreis innerhalb kürzester Zeit nur noch aus Dealern und Lieferanten bestand und ich noch tiefer in die Szene gerutscht bin.
Wenn ich in Rumänien war, habe ich wegen der sengenden Hitze tagsüber meistens viel geschlafen, und abends bin ich dann mit meinem Neffen in seiner Shisha-Bar gewesen, habe ein paar Wasserpfeifen geraucht, war oft in der Stadt spazieren und habe beim Bäcker was Süßes gegessen. In meinem Dorf wohnt Arm neben Reich, Villen neben Lehmhäusern mit alten Dachziegeln, Bauern neben Großhändlern und Schön neben Hässlich.
Seitdem meine Mutter gestorben ist, besitzen meine Brüder und ich inzwischen ein Haus in Rumänien, das wir so lange untervermieten, bis wir wieder dorthin fahren. Die ausländische Küche gefällt mir besser wegen der Vielfalt und den Gewürzen, aber ich esse auch gern Currywurst und Schnitzel.
Kookie: Braucht man überhaupt Strafen?
Text von Kookie: (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ich finde, man braucht Strafen, denn ohne Strafen gibt es keine Grenzen und keine Ordnung. Denn ohne Strafen könnte ja einfach jeder in jeden Laden einbrechen oder Fahrräder klauen, ohne dafür belangt zu werden.
Ich denke, ohne Strafe wird sich kein Mensch ändern. Wenn jemand immer klaut, ohne eine Konsequenz dafür zu bekommen, dann macht er ja einfach so weiter. Jeder, der Scheiße baut, muss bestraft werden, denn schließlich kann ja auch jeder selbst entscheiden, ob er Scheiße baut oder nicht. Und dabei ist es egal, ob man Kaugummi klaut oder tötet – wenn man gegen die Regeln verstößt, muss das bestraft werden: Mit Geldstrafe, Freiheitsentzug, Hausarrest, Knastarrest oder Bewährung.
Zum Beispiel: Wenn einer fünfzehn Jahre im Knast saß, rauskommt und macht wieder das Gleiche – dann sollte man ihn vielmehr in die Psychiatrie einweisen. Denn er scheint ja nichts anderes zu verstehen. Das ist so, wie wenn einer immer wieder rumschreit, obwohl man ihn schon dreimal ermahnt hat, bitte ein bisschen leiser zu sein – wenn er trotzdem weitermacht, braucht er eben eine Ansage.
Ich würde mich natürlich darüber freuen, wenn es keine Strafen geben würde. Aber es wird immer Menschen geben, die Scheiße bauen, und deswegen muss es Strafen geben.
La M: Meine schlimmste Erinnerung
Text von La M (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
(Anmerkung: Der Autor hätte auch seine schönste Erinnerung aufschreiben können, aber die wollte er lieber für sich behalten.)
Ich war als Kind hyperaktiv und impulsiv, deswegen bin ich nie richtig mit anderen Kindern klargekommen. Als ich in die vierte Klasse kam, habe ich mich mit jemandem geschlagen, und das ist dann so ausgeartet, dass ich meinem Mitschüler den Arm gebrochen habe.
Natürlich ist mein Vater deswegen durchgedreht und handgreiflich geworden. Er hat gesagt, wenn ich mich noch einmal schlage, schickt er mich nach Afrika. Ein Jahr später, als ich in der fünften Klasse war, hat ein älterer Junge meine Mutter beleidigt. Und ich habe ihm mit der Faust ins Gesicht gehauen. Danach wurde mein Vater angerufen. Ich kam nach Hause, mein Vater hat mich sofort geschlagen. Ich weiß noch genau, dass er zum ersten Mal mit Fäusten auf mich losgegangen ist, mein ganzes Gesicht hat geblutet. Meine Mutter wollte dazwischengehen, aber er hat sie auch geschlagen.
Einige Zeit später hat mein Vater mich gefragt, ob ich mit ihm in den Urlaub fliegen will. Natürlich habe ich Ja gesagt. Eine Woche danach sind wir losgeflogen. Wir haben die erste Nacht bei meinem Onkel im Senegal verbracht. Früh am Morgen hat mein Vater mich geweckt, und wir sind irgendwo hingefahren. Es war eine Dreistundenfahrt, bis wir angekommen sind: Auf einem Gefängnis-ähnlichen Gelände. Wir wurden von einem Security-Mann reingelassen. Mein Vater hat neben einer Bank unter einem Mangobaum geparkt. Dort haben wir uns hingesetzt. Dann sagte er, dass er etwas holen müsse und dann wiederkommen würde. Danach habe ich ihn zweieinhalb Jahre nicht mehr gesehen.
Ich war in einem senegalesischen Internat gelandet, wo ich die zweieinhalb Jahre verbringen musste. Es war die Hölle. Wir wurden für jeden kleinen Fehler mit Schlägen bestraft. Während der ganzen Zeit dort durfte ich nur einmal telefonieren. Und jedes Mal, wenn ich auf meine Narben gucke, denke ich an diese Zeit. Und langsam gewöhne ich mich daran, obwohl es immer noch schwer für mich ist.
61-kurdi: Meine Lebensgeschichte
Text von 61-kurdi (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ich bin 61-kurdi, bin am 01.01.2007 geboren, habe eine große Schwester, eine kleine Schwester, einen kleinen Bruder und meine Eltern. Ich bin Kurde aus Syrien. Bei uns zuhause war Krieg. Wir hatten damals gar nichts, konnten nicht zu Schule gehen, und mein Vater hat in verschiedenen anderen Ländern gearbeitet, um uns zu ernähren. Meine Mutter hat uns jahrelang allein aufgezogen, und ungefähr 2014 haben sich meine Eltern entschieden, dass mein Vater nach Europa geht – für unsere Zukunft. Weil es in Syrien für uns keine Zukunft gab. Mein Vater ist zuerst nach Dänemark geflüchtet, und wir waren für ein paar Monate in der Türkei. Dann mussten wir wieder zurück nach Syrien, wegen unserer Dokumente. Nach ein paar Tagen in Syrien gingen wir wieder zurück in die Türkei. Von dort aus sind wir durch viele Länder geflüchtet und sind dann nach Deutschland gekommen. Wir waren für fünf Monate in Bremen in einem Flüchtlingsheim, von dort aus kamen wir in ein anderes Flüchtlingsheim in NRW – nach Höwelhof, das ist in der Nähe von Paderborn. Als ich noch ganz neu in Deutschland war, waren die Leute sehr korrekt zu mir. Sie haben mir zugehört, ich habe mich verstanden gefühlt. Ich hatte deutsche Freunde, mit denen habe ich immer Fußball gespielt. Und ich habe auch einen syrischen Freund gefunden, mit dem habe ich nur Scheiß gemacht.
Dann hatten wir auch endlich wieder Kontakt mit meinem Vater. Er wollte natürlich sofort zu uns kommen, aber das ging nicht, weil er sich zuerst hier in Deutschland anmelden musste. Also ist mein Vater zur Ausländerbehörde gegangen und hat dort alles erzählt: Dass er aus Dänemark kommt, dass seine ganze Familie hier ist und dass er auch hier in Deutschland bleiben will. Er sollte sich dann in einem Flüchtlingsheim anmelden, das hat er gemacht, und mit Hilfe eines Anwalts hat er dann auch eine Duldung in Deutschland bekommen. Und nach einigen Monaten hatte er auch einen Aufenthaltstitel für ein Jahr und durfte zu uns umziehen. Wir haben also alle wieder zusammengelebt und wollten dann nach Hamburg umziehen, weil die Familie meiner Mutter in Hamburg wohnt. So sind wir nach Hamburg gekommen.
Wir sind in Hamburg zur Schule gegangen, zwei Jahre lang lief alles gut. Ich war ein paarmal am Jungfernstieg, dort habe ich einige Jungs kennengelernt, die hatten schöne, teure Klamotten und viel Geld dabei. Mit den Jungs habe ich gechillt, angefangen, Zigaretten zu rauchen, später haben wir auch gekifft. Ich hatte damals kein Geld, keine teuren Klamotten – und dann habe ich mit den Jungs teure Fahrräder geklaut: E-Bikes und Mountainbikes, die von 1.000 bis 15.000 Euro kosten. Zuerst haben wir vielleicht einmal pro Woche geklaut, später dann täglich. Wir haben die Bikes dann weiterverkauft und von dem Geld habe ich mir dann Klamotten und Drogen gekauft. Und ich bin jeden Tag in die Spielo gegangen und habe 500 bis 700 Euro verspielt. Als ich alles verloren und gar kein Geld mehr hatte, habe mir meine Kollegen Geld geliehen, das habe ich auch verspielt. Als wir alle kein Geld mehr hatten, haben wir wieder geklaut, diesmal in ganz Deutschland: Zuerst in Hamburg, dann in Lübeck, Flensburg, Bremen, Hannover, Kiel, Lüneburg, Frankfurt und in ganz Bayern. Dort wurde ich schließlich zusammen mit zwei Kollegen verhaftet. Wir sind in Bayern in Untersuchungshaft gekommen, dann wurden wir mit einem Gefangenentransport nach Hamburg-Hahnöfersand gebracht, weil ich meinen Wohnsitz in Hamburg habe. Ich habe zwei Jahre Strafe bekommen, meine Mittäter ein bisschen mehr. Im Knast bin ich jetzt seit einem Jahr und drei Monaten.
Als ich noch draußen war, dachte ich immer, der Knast wäre nicht so schlimm. Aber wenn man reinkommt, merkt man doch sofort, dass das hier nicht so leicht ist. Man hat jeden Tag Kopfschmerzen, denkt jeden Tag an draußen – was die Leute wohl gerade machen, die man kennt. Man denkt an die Freiheit, man denkt an die Opfer, man bekommt Mitleid mit denen, denen man etwas angetan hat. Außer hier im Knast habe ich vorher noch nie deutsches Essen gegessen. Zu Hause bei uns gab es immer syrisches Essen, das meine Mutter gekocht hat.
Kookie: Wo hört Ordnung auf - und wo fängt Zwanghaftigkeit an?
Text von Kookie (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ich finde, eine Zwangsstörung fängt da an, wenn man ständig den Tisch abwischen muss, obwohl der doch sauber ist. Mir hilft Saubermachen gegen Sorgen, denn damit kann ich mich gut ablenken. Aber es gibt viele Menschen, die es überhaupt nicht beruhigt, zu putzen. Ich mache gerne sauber, denn Sauberkeit ist für mich wichtig. Ich denke, dass Menschen, die nicht putzen, damit zeigen, wie sie so drauf sind: Chaotisch oder faul, und sie halten auch nicht viel auf sich und ihre Umgebung.
Ich brauche Ordnung, denn dann kann ich besser schlafen und fühle mich auch insgesamt besser, weil ich finde, dass es auf der Welt schon genug Unordnung gibt. Ich wäre schon gerne gelassener, denn wenn es dich immer aufregt, dass nicht alles so perfekt ist, wie du es willst, dann macht das auf Dauer deinen Kopf kaputt. Aber manchmal will ich auch einfach nur chillen und nicht immer alles ordentlich machen.
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DIE HAFTNOTIZEN
Kolumne mit kreativen Texten aus der JVA Hahnöfersand
Die Autoren sind allesamt Jugendliche und junge Erwachsene aus der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand. Sie nehmen an der dortigen Gruppe für kreatives Schreiben teil, mit der fachlichen Begleitung der Autorin und Schreibtrainerin Tania Kibermanis.








