Haftnotizen Ausgabe 55

Übersicht

Sonderausgabe zum internationalen Tag der Roma

Am 8. April wird jedes Jahr der Welt-Roma-Tag gefeiert, der auf die größte Minderheitengruppe innerhalb Europas blickt und an ihre leidvolle Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung erinnert. Der Autor dieser Ausgabe der HAFTNOTIZEN ist Sinto und erlaubt uns Einblicke in einen spannenden wie spannungsvollen Kulturkreis, der, wie kaum ein anderer, mit Klischees und Vorurteilen zu kämpfen hat.

Wir wünschen gute und erhellende Gedanken beim Lesen!

Hinweis: Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.

Meinungsfreiheit

Wie immer ist uns Meinungsfreiheit sehr wichtig – deshalb äußert der jeweilige Verfasser seine ganz persönliche Meinung, die nicht unbedingt vom gesamten Team der Haftnotizen geteilt werden muss.

Schreibtrainerin: Tania Kibermanis


Scottie 579: Sinti und Roma

Text von Scottie 579 (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)

Sinti und Roma haben ihren Ursprung in Indien und haben sich über die Zeit überall auf der ganzen Welt verbreitet. Sie sind damals mit Pferdewagen rumgefahren und haben in ihren Wagen auch geschlafen. Roma haben sich eher in der Umgebung um den Balkan verbreitet, Sinti eher in Westeuropa und Polen. Natürlich gibt es auch Roma, die dort hingezogen sind. Sie sind so viel rumgekommen, weil sie nirgendwo wirklich geduldet wurden, und bis heute eine Minderheit sind. Sinti und Roma haben viele Gemeinsamkeiten, und unsere Sprachen sind Romnes und Romanes – die Dialekte sind unterschiedlich, doch es gibt viele gleiche Wörter bei den Sinti wie bei den Roma. In Deutschland wird unsere Sprache nicht als Weltsprache anerkannt, sondern immer noch als Sprache für Kriminelle angesehen. Es gibt Gemeinden, wo der Gottesdienst in unserer Sprache Romnes abgehalten wird, wo für kranke Familienmitglieder gebetet wird.

In Hamburg zum Beispiel hat jeder Bezirk einen Rechtssprecher. Wir Zigeuner* haben Regeln und Grundsätze, die man nicht bricht. Wenn man sie bricht, dann wird man „zurückgelegt“. Das bedeutet, dass man über einen bestimmten Zeitraum nicht dabei sein darf, wenn interne Sachen besprochen werden. Man darf nicht am selben Tisch und mit dem gleichen Besteck essen wie die anderen, weil man sonst alles wegwerfen müsste. Am besten gibt man den „Zurückgelegten“ Pappbesteck. Ich nenne jetzt mal ein paar Regeln: Man darf bei uns kein Pferdefleisch essen, weil die Pferde uns damals geholfen haben, uns zu verbreiten und vorwärtszukommen.

Die Frau eines Sinto darf nicht in einem Striplokal oder als Geburtshelferin arbeiten. Und sie darf nicht über Nacht wegbleiben, sondern muss immer zuhause schlafen. Es gibt natürlich auch Ausnahmen, aber dann müssen alle Bescheid wissen.

Wir dürfen auch keine Polizisten werden, weil man dann gegen die eigenen Leute ermittelt und diese hochnimmt. Man darf aber Informationen an die Polizei weitergeben oder jemanden vorwarnen. Soldat darf man bei uns auch nicht werden, da die Deutschen uns damals vergast und unsere Kultur mit Füssen getreten haben. Wir dürfen auch keine Altenpfleger oder Ärzte werden und nichts tun, was mit Blut und Saubermachen von intimen Körperteilen zu tun hat. In der Familie geht das, aber nicht als Beruf. Bestatter geht auch gar nicht, weil man dabei mit toten Menschen hantiert. Bei uns darf man nicht respektlos einer Frau gegenüber sein. Und es wird erwartet, dass man zu seiner Kultur steht.

Man darf bei uns keine Lebensmittel in die Badewanne legen, wenn zum Beispiel im Sommer der Kühlschrank nicht geht. Der Tisch, von dem man isst, ist heilig – man darf sich nicht draufsetzen, seine Füße nicht draufpacken und auch keine schlechten Nachrichten wie Haftbefehle, Post von der Polizei oder Rechnungen am Tisch lesen, weil das Pech bringt. Und wenn man sowas macht, dann muss man den Tisch zerstören und ersetzen.

Unsere Frauen tragen Röcke, mindestens knielang. Auch im Schwimmbad tragen sie einen Badeanzug, ein T-Shirt und eine Shorts, die übers Knie reicht. Oder eben einen Rock. Das macht man aus Respekt gegenüber dem Lebenspartner. Für Mädchen gilt das erst ab sechzehn, und meistens machen sie es sowieso von sich aus. Frauen sind schon so gut wie heilig bei uns, weil sie sich zuhause um alles kümmern. Bei uns gibt es sogar Frauen, die berüchtigt sind, und schlimmer als manche Männer.

Bei uns gibt es Sachen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Viele Sinti waren und sind Zirkusleute und gehen hausieren – für die Tiere. Andere sind im Garten- und Landschaftsbau unterwegs und organisieren ihre Aufträge, indem sie persönlich von Haus zu Haus gehen und Flyer mit ihren Kontaktdaten und den Diensten, die sie anbieten, verteilen. Aus meiner Familie sind viele in diesem Gewerbe selbstständig tätig.

Als Deutschland damals den Angriff auf Russland initiierte, und seinem Volk den „absoluten Krieg“ schmackhaft machen wollte, was erfolgreich geschah, wurde gleichzeitig der Holocaust eingeleitet. Als erstes wurden die Juden verschleppt. Zuerst die Männer – weil es hieß, wenn sie sich stellen würden, dann wäre der Rest der Familie damit in Sicherheit. Doch dann wurden auch Frauen und Kinder in die verschiedenen Konzentrationslager gebracht. Die, die arbeitsfähig waren, hatten bessere Überlebenschancen. Die, die es nicht konnten, wurden vergast oder erschossen. Was mir übrigens lieber wäre, als in eine Gaskammer gesperrt zu werden, wo die Atemluft durch Gas ersetzt wird. Was für eine Qual. Die Juden mussten an den Konzentrationslagern weiterbauen, um mehr Platz für ihre eigenen Leute zu schaffen.

Ein Tätowierer, der in Auschwitz „gearbeitet“ hatte, wurde, nachdem er angekommen war, in der Baracke für „Zigeuner*“ untergebracht. Dort lebte er zusammen mit Sinti und Roma, sie unterhielten sich viel, und er beschrieb sie als gesellige Menschen, die sangen und sehr eng mit ihrer Familie waren. Der Tätowierer bekam von außerhalb Essen und Medikamente, die er mit Gold, Edelsteinen und Dollars bezahlte – die er aus den Habseligkeiten der Leute genommen hatte, denen ihr ganzes Hab und Gut weggenommen wurde. Und er teilte alles mit den Juden und den Sinti und Roma. Trotz allem blieben wir in Deutschland, obwohl wir so viel Unrecht erdulden mussten. 

Das familiäre Leben ist bei uns wichtig. Man unternimmt viel zusammen, fährt im Sommer mit dem Wohnwagen auf einen großen Campingplatz. Die Väter zeigen den Söhnen, wie man sich zu verhalten hat und wie man Geld macht. Töchtern wird der Haushalt beigebracht und all solche Sachen. Mädchen und Jungs wird gezeigt, wie man sich kleidet, egal zu welchem Anlass, und die Regel ist: Feiern fallen immer groß aus, egal ob Geburtstag, Hochzeit, Beerdigungen, Einschulungen oder Taufen.

Wenn man eine Frau heiraten möchte, legt man Geld zur Seite und Gold, in Form von Münzen, Goldbarren oder Schmuck. Man holt guten Alkohol und ein Halstuch, dann schmückt man die Flasche mit dem Gold und verdeckt diese mit dem Halstuch. Bei uns Sinti wird die Frau dann „entführt“ – was so viel heißt, dass sie dann 24 Stunden wegbleibt, ohne erreichbar zu sein. Aber eigentlich wissen ja alle, wo sie ist. Am nächsten Tag macht man sich schick, nimmt Geld und die vorbereitete Flasche mit und geht zu ihr nach Hause. Dort ist dann meistens schon volles Haus. Man setzt sich an den vorbereiteten Tisch und sagt, dass man sich verloben möchte und handelt einen Bargeldbetrag aus. Der Vater der Braut fragt, wie sie wohnen werden und wie sie ihr Geld verdienen. Man sagt, was von einem erwartet wird und verspricht ihm, seine Frau nicht zu schlagen und ihr nichts zu verbieten – nur das, was sowieso gegen unsere Regeln ist. Und man verspricht, sie immer gut zu behandeln und sich um sie zu kümmern. Dann „kauft“ man mit dem Bargeld die Frau von ihrer Familie frei. Zuerst holt man die verdeckte Flasche raus, nimmt das Tuch ab, gibt dem Vater der Braut das Gold, der Braut den Verlobungsring und öffnet die Flasche. Dann stößt man an und feiert. An diesem Tag kommen alle zusammen, und aus zwei Familien wird eine – und das wird auch dementsprechend zelebriert. Bei der Hochzeit kommt die Frau in einem weißen Kleid in die Kirche, in der die Trauung stattfindet. Nach der Trauung startet ein Autokorso, und die Familie fährt zum angemieteten Saal, während sich das Hochzeitspaar erstmal allein zurückzieht. Danach kommen sie gemeinsam zur Feier zurück, und die Braut trägt jetzt ein rotes Kleid. Das Ehepaar bekommt Glückwünsche und Geld, dann wird getanzt und gefeiert.

Aber das Wichtigste bei uns sind Beerdigungen. Bei den Toten hört der Spaß auf. Alle kommen dann zusammen – egal, ob sie zerstritten sind. Der Sarg ist offen, so dass man den Verstorbenen sehen und Abschied nehmen kann. Bei der Beisetzung wirft man Sachen auf den Sarg, die der Verstorbene gerngehabt hat, auch Joints und alles Mögliche, nur keinen Alkohol.

Was denke ich über das Ganze? Ich stamme aus einer großen Sinti-Familie, die bekannt ist für den Einsatz von Schusswaffen[1]. Das verfolgt mich – aber nur bei anderen Sinti, die uns und unsere Geschichte kennen. Ich habe im Grundschulalter auch Sachen gemacht wie Klauen, Betrügen und Lügen, was sich mit dem Alter aber geändert hat. Ich habe zwölf Geschwister, von denen ich der Älteste bin. Ich habe viele Onkel, meine Cousins sind alle viel älter als ich. Ich habe einen einzigen, der nur zwei Monate älter ist, der Rest ist zwischen 30 und 45 Jahre alt. Und ich habe viele Tanten. Meine Großeltern beiderseits sind schon von uns gegangen. Die meisten Verwandten habe ich von der Seite meines Vaters. In meiner Familie habe ich schon vieles gesehen, gehört und erlebt. Ein paar Familienmitglieder sind zerstritten und führen Krieg miteinander. Ich habe damit aber nichts am Hut – alle mögen mich. Es macht Spaß, so viele Leute um sich herum haben zu können, die alle Familie sind. Ich würde das für kein Geld der Welt tauschen wollen. Es hat eben auch seine Vor- und Nachteile – doch schon mehr Vorteile. Jeder kennt jemanden von uns, und deshalb werden wir auch gut behandelt.

*Das Wort „Zigeuner“ ist in Deutschland eine Beleidigung und bedeutet „Ziehende Gauner“ – weil sie geklaut und andere kriminelle Dinge gemacht haben. Für mich ist „Zigeuner“ keine Beleidigung – das ist unsere Geschichte, und ich bin stolz, ein Teil davon sein zu dürfen. Und wenn es ein nächstes Leben geben sollte, würde ich genau dasselbe sein wollen.

[1] Anm.: Schusswaffen sind in der Kultur der Sinti verpönt – wegen der Erschießungen von Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus.


Feedback

Die Verfasser der Artikel freuen sich sehr über Feedback zu ihren Texten. Schreibt uns gerne Lob und Kritik an jugendinfo@bsb.hamburg.de und wir leiten eure Rückmeldungen (anonymisiert) weiter.

DIE HAFTNOTIZEN

Kolumne mit kreativen Texten aus der JVA Hahnöfersand

Die Autoren sind allesamt Jugendliche und junge Erwachsene aus der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand. Sie nehmen an der dortigen Gruppe für kreatives Schreiben teil, mit der fachlichen Begleitung der Autorin und Schreibtrainerin Tania Kibermanis.

Zur Jugendredaktion

© 2
Weitere Haftnotizen